Das Knöllchen
In der Küche stand das Geschirr vom Frühstück zusammengeschoben auf der Ablage. Flüchtig bemerkte sie es, füllte die Kaffeemaschine.
„Schatz – ich bin da! Langes Wochenende, ist das nicht toll? Montag habe ich Mittagsschicht!“ Fröhlich rief sie es in Richtung Wohnzimmer.
Keine Antwort.
Die Wodkaflasche auf dem Couchtisch blitzte sie an. Ihr Mann saß auf seinem Stammplatz im weichen Ledersessel, sah sie streng an. Kalkig sein Gesicht. Ungewöhnlich, dieses Bild.
Schnaps trank er doch nur beim gemütlichen Beisammensein.
„Wer - ist - dein -
Freund?!“ Jedes Wort klang wie aus einem Betonklotz gesprengt, tief und
beunruhigend.
„Wie bitte, Freund? Welcher Freund?“ Sie unterdrückte ein Prusten.
„Wer ist dein Freund?“, wiederholte er. Der Tonfall duldete kein Gelächter.
„Wie kommst du denn darauf? Ich habe keinen Freund. Was soll diese komische Frage?“
„Und was ist das hier?“
Mit eckiger Geste warf er ein DIN-A-4-Blatt über den Tisch.
Natürlich, schoss es in ihren Kopf, das Knöllchen. Das hatte sie schon fast vergessen.
Sie nahm das Papier auf, sah die amtliche Note, sah die schwarz gedruckte, eingefügte Kopie – ein Foto in Scheckkartengröße, das sie in ihrem Auto zeigte.
„Was ist das denn?“
Fassungslos starrte sie auf den Papierausdruck des angeblichen Originalfotos. Ihr eigenes Gesicht schaute sie an, entspannt hinter dem Lenkrad – und neben ihr, nein rechts hinter ihr, saß jemand in ihrem Auto. Ein Mann. Auf der Rückbank, in aufrechter Haltung – deutlich zu sehen der untere Teil des Gesichtes – saß ein Mann.
Unmöglich, reklamierten ihre Gedanken. Das kann nicht sein.
Kindliches Erstaunen öffnete ihre Lippen zum stummen Protest, hinterließ Skepsis und Ungläubigkeit. Sie musterte die Gestalt, die ihr im Genick saß. Dieser Fremde hatte ganz selbstverständlich im Fond des Wagens Platz genommen, als gehöre er dorthin.
Tadellose Haltung, helles Hemd, korrekt gebundene Krawatte, rundes, glattes Kinn mit dem Hauch eines Lächelns auf der Unterlippe, abgeschnitten der obere Kopfteil.
„Da sitzt ein Mann hinter mir, ich fass’ es nicht!“ Der Kloß im Hals erwürgte ihre Stimme. Sie wankte zur Couch, musste sich setzen, hielt das Blatt in ihren Händen, überflog stumm mit großen Augen den amtlichen Text: ‚Zeugenfragebogen, fett gedruckt ihre Autonummer, am 16.09.2009,
Sie überschritten die Geschwindigkeit um …’
Ja, na klar, aber unwichtig, dachte sie, drehte das Papier um. Nichts, keine weitere Erklärung auf der Rückseite. Eindeutig ist er zu sehen – dieser fremde Herr, ob es ihr passte oder nicht. Normalerweise schwärzt man doch Beifahrer, die auf dem geblitzten Foto erscheinen, fiel ihr ein.
‚Sie können das Zeugnis verweigern, wenn Sie’…, las sie den Ausklang des Briefes. ‚Mit freundlichen Grüßen, im Auftrage, dieses Schreiben ist ohne Unterschrift gültig’…
„Immerhin hast du einen guten Geschmack. Alle Achtung. Ein Freund mit Krawatte!“ Zynisch fauchten die Worte ihres Mannes, spießten sich ins Ohr wie aus einer fernen Welt. Sie konnte nicht antworten.
Ihre bis in den Haaransatz geschossene Hitzewelle hatte sich in die Gänsehaut ihrer Arme verzogen. Sie spürte aufkommende Übelkeit, drückte ihre Hände in die Magengegend, schluckte die nach außen drängenden Tränen hinunter.
„Da muss sich jemand einen Scherz erlaubt haben“, hörte sie sich wie in Trance antworten. „Das kann nicht sein, ich war allein im Auto. Glaub mir! Ich hab’ auch keinen Freund.“
Ihr Mut wurde kleinlaut.
„Vor circa vier Wochen – in der 10er-Zone – am Markt is’es passiert. War mit den Gedanken noch bei meinen Alten. War ein bisschen zu schnell. Bin geblitzt worden, ja klar, aber es saß niemand in meinem Auto. Ich schwör’ es dir! Ich hab’ auch keinen Bekannten oder Anhalter mitgenommen.“
Jetzt flatterte ihre Stimme.
„Warum glaubst du mir nicht?“
„Weil dieses amtliche Foto keine Fälschung sein kann, meine Liebe, und weil dieses Dokument etwas Anderes erzählt. Er ist jedenfalls auf dem Foto zu sehen, dein feiner Herr!“
„Denkst du wirklich, dass ein Freund hinter mir sitzen würde, wenn ich mit ihm durch die Gegend fahre? Der Beifahrersitz neben mir ist doch leer, wie du siehst. Ich begreife es nicht! Wer ist bloß dieser Kerl in meinem Auto?“
„Erklär - es - mir!“, sagte er gedehnt. Seine Blicke durchschnitten die dicke Luft.
„Am Montag fahren wir zum Straßenverkehrsamt, gucken uns einfach mal das Original an. Dann haben wir Klarheit, okay? Und du musst mir keine Märchen mehr erzählen!“
Sein Gesicht bekam eckige Züge.
„Und jetzt will ich nichts mehr davon hören!“
Sie wischte über ihre feuchte Wange.
Ein Gedankenblitz ließ sie jäh erschauern. Doch nicht etwa Otto?
Die Erinnerung überspülte sie wie eine eisige Welle.
Lange hatte sie Otto gepflegt, ihren Otto, hatte ihn aufgeheitert, umgebettet und bei Schmerzattacken seine bebende Hand gehalten. Oft hatte sie ihn getröstet, hatte ein Lächeln in sein Gesicht gestreichelt, wenn sie mit ihm über ‚das Leben danach’ sprach.
Das Wiedersehen in einer anderen Welt wurde wichtig, ließ den Abschied erträglicher werden. So empfand sie. Daran wollte sie glauben. Unverhoffte Heiterkeit, manchmal kuriose Lachanfälle ihrer Schützlinge, witzige Blüten in der Warteschleife zum Reich in die Ewigkeit.
‚Ich besuche dich als Geist, wenn ich einmal sterbe’, hatte Otto manchmal gesagt.‚Du wirst es merken, kannst es mir glauben, meine liebe junge Freundin. Ich besuche dich, wenn du es überhaupt nicht erwartest’.
Sie schlotterte durch abstruse Gedanken. Sie fröstelte bei diesem spirituellen Mahnruf.
Otto war schon vor drei Monaten gestorben. Warum sollte sie jetzt ihrem Mann davon erzählen? Er würde ihre Vermutung gewiss für eine plumpe Ausrede halten. Ihr Mann hatte sich doch nur ein Schmunzeln abgezwackt, wenn sie über Geistererscheinungen diskutierten, wenn sie von Séancen mit Verstorbenen erzählte, die sie in ihrer polnischen Heimat hautnah erlebt hatte.
Das Wochenende – borstig und lang wie ein sibirischer Winter, spröde wie ein vertrockneter Kuchen.
Blicke aus den Augen ihres Mannes durchtrennten Lichtstreifen, wenn sie nur in seine Nähe kam. Unbeantwortete Fragen besetzten den Kaffeeduft.
Immer wieder beäugte und wendete sie das behördliche Schreiben – heimlich und eben mal zwischendurch.
Sie fand keine Erklärung, sosehr sie das Blatt auch drehte. Das Gesicht des
Fremden auf dem Fotoausdruck war nur ein knappes Stück zu sehen, bis zur
Unterlippe, ohne Nase und Augen. Keine Spiegelung auszumachen zwischen ihrem Kopf hinter dem Lenkrad und dem Mann im Nacken. Sie konnte sich den unbekannten Beifahrer nicht erklären, der unaufhörlich ihre Gedanken zerfraß.
*
Das Büro im Straßenverkehrsamt Bottrop war gut besetzt. Drei Herren und eine Dame bearbeiteten Tastaturen und PC-Mäuse, verschoben Schriften und Zahlen auf den Bildschirmen.
„Ja, bitte?“, fragte ein verdrießlicher Damenmund.
„Meine Frau hat von Ihnen einen Zeugenfragebogen wegen überhöhter Geschwindigkeit bekommen, mit einem Fotoausschnitt. Könnten wir einen Blick auf das Original werfen. Es gibt da nämlich ein Problem.“
Drei Beschäftigte ließen ihre Mundwinkel in Richtung Fußboden abrutschen, ihre Mienen erstarrten im Pflichteifer.
‚Wieder so jemand, der das eigene Konterfei anzweifelt’, stand in ihren Gesichtern zu lesen.
Die Dame aus der Runde kam auf sie zu, nahm das DIN-A-4-Blatt in die Hand und betrachtete das schwarz-weiß kopierte Foto.
„Aber das sind sie doch, meine Dame, einwandfrei erkennbar!“
„Ja, natürlich. Aber hinter mir – sitzt jemand – und ich …“, sie stockte, „ ich war aber allein im Auto. Glauben sie mir – ich schwöre es. Ich muss es meinem Mann beweisen. Unser Ehesegen – na ja – hat schon Risse
bekommen, seit Freitag.“
Betretenes Schweigen, unbeteiligte Amtsstubengesichter.
„Ich habe einen Verdacht“, ihre Stimme versackte immer mehr.
„Es kann nur - Otto sein - ich meine - der Geist von Otto – oder seine materialisierte Geisterscheinung - oder was immer die Kamera da eingefangen hat.“
Alle Augenpaare starrten auf ihre blassen Lippen.
„Lachen sie jetzt nicht. Ich arbeite in einem Altenheim – und Otto – er ist vor einigen Wochen gestorben, Otto… Er würde mich als Geist besuchen, nach seinem irdischen Tod. Hat er meistens gesagt, wenn ich ihn gewaschen habe. Ich besuche dich als Geist, wenn du es gar nicht erwartest, hat der alte Herr manchmal geflüstert …“
Weiter kam sie nicht.
Augenblicklich erhellten sich die Gesichter der Diensteifrigen, setzten sich
Smiley-Züge in die Mundwinkel der Angesprochenen.
Drei Mitarbeiter des Straßenverkehrsamtes verließen wie abkommandiert ihren Arbeitsplatz, postierten sich hinter dem Schreibtisch der Kollegin, die bereits Zahlen und Buchstaben aus dem Befragungsbogen in die Tastatur hämmerte.
Ihr Mann schüttelte wortlos den Kopf. Die Lippen zusammengepresst, starrte er mit geschlossenen Zügen auf die Gruppe, übersah die Hand, die seine Frau nach ihm ausstreckte.
„Da haben sie es!“
Die Bürodame drehte den Monitor dem Ehepaar entgegen.
Ein farbiges Foto ergoss sich über den gesamten Bildschirm als Großformat: Ihr Wagen in Nahaufnahme, das Kennzeichen deutlich zu sehen.
Sie sitzt hinter dem Lenkrad mit Blick in Fahrtrichtung, genau wie auf dem kleinen Papierabzug.
Der Platz auf der Rückbank ist - leer. Niemand sitzt hinter ihr, niemand neben ihr, niemand im Wagen.
Alle Zeigefinger der Neugierigen deuten synchron auf ihn.
Am Straßenrand der Bügelstraße steht er, schräg hinter dem Auto, lebensgroß im feschen Anzug mit stilvoller Krawatte lächelt er aus dem Display. Erhaben über alle Kapriolen einer digitalen Fototechnik lächelt er von einem riesigen Wahlplakat in die Runde der Staunenden – der zukünftige Oberbürgermeister von Bottrop.
Jutta Kieber