Schmerzliches Erinnern

- aus dem Buch "Pardon auf den Lippen"

Der verlassene und halb eingestürzte Bauernkotten unweit des Dorfes bietet uns Flüchtlingen notdürftig Unterschlupf im Frühjahr 1945. Niemand ist fröhlich in diesen Zeiten.

Als Fünfjährige weiß man nicht so recht, warum man ständig still sein und sich verstecken muss.

"Die Russen sollen schon kurz vor Torgau stehen", meint Mutter.

"Gott beschütze uns! Wenn nur Vater bei uns wäre!"

 

Die Kieselsteinecke auf dem Hof lockt mich immer wieder zu heimlichem Spiel.

Lehmbeschmierte Stiefel stehen plötzlich vor meinem Buddelhaufen.

Ich sehe hoch zu einem bärtigen 'Soldatenriesen'.

Entsetzen starrt aus dem Gesicht der Mutter, als sie herbeistürzt, die Arme nach mir ausstreckt. Der Gewehrlauf stößt sie in Richtung Holzschuppen.

"Dawei, dawei, Matka!"

Mutter stolpert in ihren selbstgemachten Pantoffeln vorwärts.

Ich erwische ihren Schürzenzipfel.

"Mama, Mama, nimm mich mit!"

"Hau ab! Lauf weg! Nicht das Kind", schreit sie, reißt meine Hand von ihrer Kleidung.

Meine Finger klammern sich an den Eingangspfosten, die Tür wippt dagegen. Ein markerschütternder Schrei zerreißt den Himmel, nimmt mir die Luft zum Atmen, färbt das Köpfchen violett.

Die Ohrfeige aus Männerhand klatscht Mutter zu Boden.

Zwei kräftige Arme heben einen schmerzgebäumten Mädchenkörper in die Luft und schütteln ihn. Stechende Bartstoppeln und rissige Lippen furchen durch das nasse Kindergesicht, küssen verschwitzte Stirnlöckchen und wassergefüllte Augen. Die Angst lässt es feucht und warm die schmächtigen Beinchen hinunterrinnen.

In der Hocke setzt mich der Fremde auf seinen Oberschenkel und schaukelt mein Schluchzen in ertragbare Lautstärke. Es riecht kotzig, als er meine blau angelaufenen, geschwollenen Finger bepustet.

"Psst, psst, Dewotschka! ... Charascho, charascho!" Abrupt schiebt er mich an den zitternden Körper meiner Mutter, stößt russische Flüche aus – und verschwindet.

Unsere Wangen kleben heiß aneinander, unsere Tränen verschmelzen zu einem salzigen Fluss der Erleichterung.

 

Jutta Kieber