Der grüne Talisman

Es muss die Zeit meiner Kindheit gewesen sein, in der das

Wünschen noch geholfen hat und Märchenbücher meine Leselust besetzten.

 

„Bring unserer Frau Reicher ein paar Honigkuchen, sie kann

in ihrem Alter nicht mehr backen und wird sich freuen – jetzt im Advent“, sagte meine Mutter. Sie legte einige dunkelbraune Vierecke auf ein Pergamentpapier, raffte es wie einen Beutel zusammen, wickelte den abgeschnittenen Streifen eines alten Schürzenstoffes darum und band ihn zu einer großen Schleife.

„Und halt dich nicht wieder solange dort auf, die alte Dame braucht ihre Ruhe. Und klopf an, bevor du das Zimmer betrittst!“

‚Und komm nicht vom Weg ab und lass dich nicht vom bösen Wolf fressen‘, fügte ich in Gedanken hinzu und fühlte mich auch ohne rote Mütze wie Rotkäppchen.

 

Meine Mutter konnte nicht ahnen, wie gern ich unsere grauhaarige Nachbarin mit dem aufmerksamen Gesicht besuchte. Es wunderte mich sehr, dass sie Reicher hieß, obwohl sie noch viel armseliger als wir lebte. Und niemandem erzählte ich, dass sie nach meiner Einbildung in ihrer vornehmen Art eine greise Königin war, die ein böser Geist in unser Dorf verbannt hatte und die nur darauf wartete, eines Tages erlöst zu werden.

 

Meine Fantasie hüpfte mit kurzen Kinderbeinchen um die Wette, sprang hinüber zum schlammgrauen Mietshaus, das sich schon mächtig zur Seite

gelegt hatte und in der Abenddämmerung des Dezembertages noch verwunschener erschien.

Ein schaurig muffiger Geruch quoll mir im alten Flur entgegen und durchwisperte die Dunkelheit mit Geisterstimmen. Die Bewohner des

Erdgeschosses waren nicht daheim.

Hier müsse ein Zauberer hausen, bildete ich mir ein, der seine Welt in ein giftiges Grau verwandelt hatte und mir jedes Mal eine Gänsehaut überstülpte.

Schon der Treppenaufgang war eine Mutprobe. Es knarrte, quietschte und krächzte auf jeder Stufe anders. Im düsteren oberen Gang schwankten sogar die Holzplanken unter meinen Füßen und ließen es im Magen ungewohnt

kribbeln.

 

Zaghaft klopfte ich an die graue Brettertür und war froh über die warm klingende Stimme unserer Nachbarin. Intuitiv wusste ich, dass ich meine Königin nicht duzen durfte, nahm alle meine Kenntnisse zusammen, sie in der höflichen Sie-Form anzureden, was ich in meinem dörflichen und jungen Leben noch nicht allzu häufig geübt hatte.

„Ich soll – Ihnen – einen schönen Gruß von meiner Mutti

bringen, und das ist für ….“

„Sie“, ergänzte die alte Dame meinen Satz und ließ ein spitzbübisches Lächeln über ihr gütiges Gesicht huschen. Sie schien so erfreut, dass ihre fahlen Wangen leicht erröteten. Ihre verschrumpelten Hände zitterten,

als sie an dem Gebinde herumnestelte.

„Schau dich ruhig um, ich weiß, dass du recht neugierig

bist“, sagte sie und schmunzelte.

 

Meine Augen wanderten durch die schmale Dachkammer, die nur drei langgezogene Schritte breit war, aber eine ganze Hausseite einnahm. Das

einzige Sprossenfenster an der Frontseite war mit grauer Pappe geflickt und

lenkte den Blick auf riesige Kirchhofbäume. Graue Bretter trennten den Raum vom übrigen Speicher des Hauses. Ein eisengrauer Kanonenofen in der hinteren Ecke spendete wohlige Wärme und einen flackernden Feuerschein, der alle Gegenstände der kargen Behausung unwirklich wackeln ließ.

Eine Matratze lag auf dem Fußboden und war in graue Wolldecken gehüllt, dekoriert mit verblassten Plüschkissen. Eine graue Holzplatte auf vier Backsteinen duckte sich als Tisch in Zwergenhöhe. Aufgetürmte

Pappkartons und allerlei Holzkisten hätte ich liebend gern durchstöbert. Einige übereinandergestapelte, graue Sammelbände, die mit verschnörkelter schwacher Goldschrift auf ihren Buchrücken lockten, verlangten von mir ein mühseliges Buchstabieren.

 

„Wenn du älter bist, werde ich dir meine Bücher leihen, dann wirst du sie verstehen können, kleines Mädchen“, meinte Frau Reicher.

„Du bist ein Ideechen zu spät gekommen, gestern hätte ich

noch eine letzte Apfelsine für dich gehabt. Mein Sohn hatte einige mitgeschickt. Sie mussten gegessen werden, weil sie sonst ausgetrocknet wären.“

Das Wasser lief mir im Mund zusammen, als ich an die süße Frucht dachte, die wir letztes Jahr Weihnachten feierlich durch drei teilen mussten. Mutter hatte der alten Dame eine Navelorange abgekauft und uns das Schälen

in Streifen vorgeführt.

„Aber eine kleine Tafel Schokolade aus dem Paket habe ich noch für euch, du wirst sie mit deinem Bruder teilen, nicht wahr?“

Ich nickte mit kräftiger Vorfreude und sah, dass Frau Reicher ihre grauen gestrickten Wollsocken etwas höher zog, die sich auf grauen, langen Seidenstrümpfen zusammengeschoben hatten. Ihre abgemagerten Beine

suchten Halt und Wärme in grauen Filzpantoffeln.

Feines, silbergraues Haar fiel in weichen Wellen auf ihre Gesichtsrunzeln,

die wie Porzellan schimmerten. Im Nacken war das Haar zu einem schütteren Dutt zusammengesteckt. Dicke Brillengläser ließen ihre wässrig-grauen Augen seltsam weit entfernt und verträumt erscheinen.

Also wurde auch sie allmählich zu einem grauen Menschen verzaubert, wenn man sie nicht bald erlöste, dachte ich und suchte alle Kisten und Behälter in ihrer Klause nach noch vorhandenen Farbtupfern ab.

 

„Deine Mutter kocht übrigens die beste Graupensuppe, die ich

je gegessen habe. Sicher ein Rezept aus Ostpreußen. Richte ihr bitte noch

einmal meinen besten Dank auch dafür aus, dass sie immer an mich denkt. – Wir Flüchtlinge halten eben zusammen!“, fügte sie leise hinzu.

 

Meine Kehle wollte sich auswringen, als ich an das ungeliebte Mittagessen dachte. Komisch, dass Königinnen Graupensuppe mit zerschnippelten Schweineohren und ledrigen Sellerieblättern mögen. Aber vielleicht wurde sie damit durch den Zauberer geprüft, bevor sie wieder als Königin leben wird, beruhigten mich meine Gedanken.

 

„Jetzt möchte ich dir aber noch etwas Besonderes schenken,

etwas für dich ganz allein!“

Hinter ihrer Waschschüssel hatte Frau Reicher eine graue Schachtel

hervorgekramt und eine Blechdose entnommen, mit der sie geheimnisvoll

klapperte. NIVEA konnte ich auf dem Dosendeckel entziffern und staunte über die kräftige blaue Farbe.

Mit ihren verknollten Fingern fischte sie etwas aus der Dose und legte es in meine Hand. Ich sah auf einen grünen, bauchig geschliffenen, ovalen Stein, der mit einer dunklen und einer hellen halbrunden Linie durchzogen war. Der Stein war nicht größer als mein Daumennagel und glatt wie ein Lutschbonbon.

„Das ist ein Schmuckstein aus den Kleinodien meiner Mutter“, sagte Frau Reicher. „Es ist ein mugeliger Malachit in Cabochonform. Das ist ein

monokliner Kristall aus der Familie der Mineralien. Wenn du genau hinschaust, kannst du auch feine, konzentrische Ringe entdecken.

Und dieser Stein soll künftig dein Talisman sein!“

 

Weit öffneten sich meine Augen. In meinem Kinderkopf empörten sich die Hirngespinste, dass ich doch keinen Steinmann wolle – zukünftig – sondern später einen richtigen Mann heiraten möchte.

„Ein Talisman hat nichts mit einem Mann zu tun“, erklärte

Frau Reicher. Sie schien meine Gedanken erraten zu haben.

„Ein Talisman ist ein Amulett, ein Maskottchen, musst du

wissen. Das ist ein Glücksbringer!“ Ihre Stimme klang jetzt andachtsvoll und

summte wie zarte Musik.

„Möge er dir in deinem Leben möglichst viele Wünsche

erfüllen!“

Noch nie zuvor hatte jemand im Dorf so feierlich mit mir gesprochen.

Also ist sie doch eine richtige Königin, denn so sagenhaft schlau kann nur eine Königin sein, jubilierte es in meinem Kopf.

Und reich ist Frau Reicher wohl trotzdem, auch wenn sie kein richtiges Bett und keinen normalen Tisch hat. Sie besitzt gute Westschokolade und einen wertvollen königlichen Schmuck. Und nun hat sie mir einen echten Edelstein geschenkt, einen moosgrünen, geheimnisvollen Juwel.

 

Ich fragte noch einmal nach dem Namen meines Glücksbringers und hauchte einen kleinen Dankeskuss auf ihre weiche Wange, überwältigt von ihrer Großzügigkeit. Meine Gedanken schlugen Purzelbäume, als ich die Treppe

hinabstieg und immer wieder halblaut „Malachit, Malachit, Malachit“ vor mich hinmurmelte. Ich wollte die Bezeichnung meines kostbaren Schatzes auswendig lernen und fühlte mich in diesem Moment als das reichste und glücklichste kleine Mädchen in der Hohen Börde.

 

Draußen vor dem Haus konnte ich einen besonders glitzernden Sternenhimmel bestaunen. Es sind die millionenfachen Augen Gottes, flüsterte es in mir, und er wird Zeuge deiner Geheimnisse und Wünsche sein.

Wie ein mächtiger Zeigefinger schob sich der Turm unserer nahe gelegenen Kirche in meinen Blick und mahnte: Man darf bei seinen Wünschen nicht zu gierig sein, dann erfüllen sie sich nicht. Das meinten ja auch die Zaubergeschichten. Und ebenso wichtig sei es, schweigen zu können, wenn man sich etwas gewünscht hatte.

 

Ich drehte den glatten Edelstein in meiner Hand, schob mein Strickkleid hinauf und suchte die nackte Haut zwischen Leibchen und angeknöpftem Baumwollstrumpf, ließ den Malachit vorsichtig in den langen Strickstrumpf

gleiten und erschauerte, als der er kühl und kitzelnd wie ein Käfer am Bein

hinunterrutschte. Dabei hatte ich mir insgeheim gewünscht, dass mir auf dem

Heimweg meine geliebte Katze begegnen solle. Nur mit ihr wollte ich mein Glück über den magischen Stein teilen, weil sie es niemandem würde verraten können.

Wie so oft lief mir unsere geliebte Mieze auch diesmal entgegen. Überglücklich nahm ich die Katze auf den Arm, legte sie an meinen Hals, spürte ihr wohliges Schnurren, sah in ihre funkelnden Bernsteinaugen und tuschelte mein Geheimnis in das zuckende Katzenohr.

 

Als die ersten Schneeglöckchen in den Dorfgärten den Frühling lockten, erzählte mir meine Mutter, dass unsere Frau Reicher von ihrem eleganten Sohn aus dem Westen abgeholt worden sei, mit einem großen, schicken,

glänzenden Auto. Ein solche Limousine habe noch nie zuvor unsere holprigen

Dorfwege befahren.

 

Ich habe mich nicht von der alten Dame verabschieden können, weil ich zu diesem Zeitpunkt in der Schule gewesen bin. Ich habe „meine geheimnisvolle Königin“ nie wiedergesehen und nie mehr etwas von ihr gehört.

 

Aber mein Zauberstein begleitet mich noch heute, und ich bin sicher, dass er mir alle meine kleinen Wünsche erfüllt hat; allein für allzugroße hat er um etwas Geduld gebeten.

 

Jutta Kieber

 

"Der grüne Talisman" in Pardon auf den Lippen, Engelsdorfer Verlag 2013