Vera (Fluchtgeschichte aus Königsberg 1945)
Wenn Mutter vom Schicksal unserer Vera erzählte, nahm sie mich mit in das Reich ihrer traurigen Erinnerungen. Eine unsichtbare Hand drückte mich während dessen in die Welt der nicht abrufbaren Erlebnisse meines damals zu jungen Lebens. Die ungeheuerlichen Ereignisse und Auswirkungen des ‚Dritten Reiches’ gaben keine Ruhe in unserer nachfolgend zerrissenen Lebensgemeinschaft, hinterließen nie heilende Wunden.
Wie ein hörbarer innerer Monolog klang Mutters Schilderung. Dabei brauchte sie keine Zwischenfragen, keine Kommentare, als müsse sie eine therapeutische Behandlung über sich ergehen lassen, um frei zu werden von schmerzenden Gedanken, von plagenden Schuldgefühlen, die sie nicht losließen. Ihre Stimme wirkte monoton. Sie sprach wie zu sich selbst. Wollte ihr Gedächtnis auffrischen, so schien es mir, um dieses Geschehen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Meist waren es nur Fragmente, die sie ihrer Rückschau entrang. Sie erreichten mich dennoch, eindringlich und unauslöschlich, in der Zeit meines Heranwachsens kaum zu ertragen.
***
„Sie können sich selbst eine aussuchen, sie sind im Nebengebäude untergebracht!“ Feist grinste der Uniformierte.
Widerlicher fauliger Geruch, wie eine Dampfwolke schwallte er uns entgegen, ich rieche es noch heute.
„Sie sind alle entlaust, diese Stinkweiber!“ Sein knapper Kommentar.
Mir wurde übel, musste würgen.
Ein Bild des Jammers. Zerlumpte Gestalten. Junge Frauen, Mädchen, fast
noch Kinder, mit struppigen kurzen Haaren. Sprangen hoch von muffigen Strohsäcken, zogen an meiner Kleidung, redeten durcheinander in dieser fremden Sprache.
Ich lächelte ihnen zu, trotzdem. „Maama, Matka, ja, ja, ja!“ , riefen sie.
In der Ecke eine Schmächtige, mit großen, traurigen Augen, still und unbeteiligt. Sie wollte ich, und keine andere.
„Vera, Vera! Ukraine!“ Ganz zart klang ihre Stimme. Rotgeweinte
Augen, groß auf mich gerichtet. Angst stand darin. Sie sprach kein Wort
deutsch. Kam nur zögernd mit, ließ sich hin- und herdirigieren, schien vollkommen willenlos.
Kleidung brauchte sie, neue warme Kleidung. Nicht einmal einen Schlüpfer trug sie unter dem besudelten Kleid. Das warme Wannenbad, eine sichtbare Verwandlung. Unsere Vera! Ein hübsches Mädchen.
Dankbare Blicke, frische Wäsche. Sie merkte, dass sie uns vertrauen konnte,
dass es genug zu Essen gab. Schlang am Anfang wie ein Tier.
Kontrolliert haben sie uns, die Braunen, kreuzten unangemeldet auf.
Wo die Russin ihren Schlaf- und Essplatz habe, wollten sie wissen.
„Ziehen sie sofort die weißen Bettbezüge ab, da muss karierte drauf!“ Barsche, schneidende Befehlstöne.
„Am Esstisch einer deutschen Familie hat die Fremde nichts zu suchen, merken Sie sich das!“
Dein Vater ballte die Faust in der Tasche, wenn die Nazis aufkreuzten. Schloß später einfach die Tür ab.
Vera saß trotzdem mit uns am Tisch. Wenn es klopfte, verschwand sie automatisch aus dem Zimmer. Sie begriff schnell, worum es ging.
Ihre Unterbringung im Bügel- und Hauswirtschaftsraum ließen sie durchgehen. Das Fenster zur Südlage konnten sie nicht verbieten.
„Aber ohne weiße Bettwäsche, merken Sie sich das!“
Euer Papa musste sich zusammen reißen, wenn die nazistischen Auskundschafter seinen Namen verhunzten, ihn ganz frech duzten.
„Sei froh, dass du kein Jude bist, Gulasch. Mit Ungarn sind wir noch gnädig! Noch, sage ich!“
Wir schluckten alles runter, wollten gern heiraten. Haben immer wieder Anträge gestellt, haben gebeten und gebettelt. Tränen halfen nicht. Diese Erniedrigung, jedes Mal von neuem. Selbst nach dem zweiten gemeinsamen Kind bekamen wir keine Heiratserlaubnis. Manche Kunden haben uns verachtet, meist die Hitlertreuen.
„Wilde Ehe, dann noch mit einem Ausländer!“, meinten sie. Kauften aber trotzdem Obst und Gemüse bei uns. Es gab ja kaum noch Ware. Und euer Vater war immer freundlich und gut gelaunt, schaffte heran, was er für den Laden bekommen konnte. Schon morgens um drei Uhr war er mit dem Lastwagen unterwegs zum Großmarkt oder zu den Bauern, wo es manchmal noch Möhren und Kartoffeln zu holen gab, aus den Mieten. Vera musste mit, Kisten schleppen und helfen beim Auf- und Abladen. Sie hat von selbst angepackt. Unsere Vera hat viel verstanden, war willig und fleißig bei
der Arbeit, hat sich nie beklagt.
Ich durfte nicht das Geringste mehr heben nach den zwei Kaiserschnitten mit dem zerrissenen Leib und den faustgroßen Brüchen.
„Das kann Ihr Tod sein! Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter!“
Der Arzt schimpfte, wenn er hörte, dass ich wieder so lange im Geschäft
stand. Wir konnten mit seinem Attest eine Hilfe für Laden und Haushalt beantragen. Bekamen die Order, eine russische Zwangsarbeiterin zu beschäftigen, das konnten wir nicht ahnen. Den Mund hatte man zu halten und Stillschweigen darüber zu wahren.
Vera hat uns ihre Familie, ihr Haus aufgemalt und beschriftet, damit wir begreifen sollten: Mutter, Vater, einen größeren Bruder und zwei kleinere Geschwister. Sich selbst malte sie mit Zöpfen. Jetzt war sie kurz geschoren. Ihre Namen konnte ich nicht lesen in der russischen Schreibart. Sie las sie uns vor: Kolja, der große Bruder, Olga und Nina die kleinen Schwestern,
Mama Katja, Papa Igor. Wir verstanden, was sie uns
sagen wollte, verstanden ihre Traurigkeit und die häufigen Tränen, wenn sie
allein in ihrem Zimmer war.
Mit euch Kindern lernte sie die ersten deutschen Worte, wiederholte alle Wörter laut, die aus eurem Kindermund kamen. Du warst bei Vera
besonders gesprächig, liefst ihr immer entgegen und sahst sie erstaunt an, wenn sie nicht antwortete. Hast unermüdlich geplappert mit deinen drei Jahren, hast viel gefragt und manchmal selbst geantwortet. Füttern durfte nur Vera dich, sobald sie erschien. Warst als Kind eine schlechte Esserin. Wir rannten dir oft mit den Häppchen hinterher. Wenn Vera leise russische Lieder sang, hast du deinen Mund geöffnet und brav gegessen. Ich musste mich umdrehen, mein Weinen verstecken. Ich hielt das nicht aus. Sie war ja selbst fast noch ein Kind, war erst 17 Jahre alt.
Nach einigen Monaten konnte Vera uns vage erzählen und aufmalen, dass sie bei der Feldarbeit verschleppt wurde, auf einen Lastwagen geschmissen
und nach Königsberg gebracht, von Uniformierten mit aufgepflanzten Gewehren.
Sie muss großes Heimweh gehabt haben und Angst um die Zukunft. Es stand in ihrem ernsten, blassen Gesicht. Wir konnten nicht sagen, wie es weitergehen würde, wussten es selbst nicht. Sie gehörte erst einmal zu uns, zu unserer Familie.
Veras Augen leuchteten selten, nur wenn sie mit euch spielen und reden konnte. Dein Bruder wollte immer Russisch mit ihr sprechen, schwatzte bald die ersten Worte nach. Er war ganz stolz, wenn wir ihn nicht verstanden. Vera nickte dazu und redete mit ihm.
Wir hatten viel zu wenig Zeit für euch zwei. Brachten euch 1944 aufs Land, wegen der Bombenflieger. Mussten im Dorf eine Kinderfrau einstellen. Sonntags waren wir zusammen. Vera war immer dabei. Euer Papa ging mit euch so oft er konnte spazieren. Dich schob er sehr gern im Kinderwagen durch die Straßen. Seinen Stammhalter Hansi nahm er an die Hand. Er war so unermesslich stolz auf seine Kinder wie kaum ein deutscher Vater.
Manche Leute fragten, ob er seine beiden Enkel ausführe. War zu verstehen, ging er doch schon auf die 60 zu. Darf gar nicht daran denken, wie er euch verwöhnte und stolz präsentierte. War stets besorgt, dass Vera auch ja
alles richtig machte, wenn sie mit euch Kleinen umging.
Diese verdammten Bombenangriffe auf Königsberg, in immer kürzeren Abständen heulten die Sirenen.
Fliegeralarm schlug mir ständig auf den Darm, musste jedes Mal erst zur
Toilette. Vera durfte nicht mit in den Luftschutzbunker.
„Hier ist nur Platz für Deutsche!“, schrie der verhasste Blockwart ganz laut.
Euer Vater stellte Vera bei Fliegeralarm unter den Türrahmen, bevor wir in den Keller flüchteten. Wollte ihr zeigen, wo sie vielleicht etwas sicherer war. Vera verkroch sich lieber unter dem großen Esszimmertisch, fühlte sich dort geborgener.
Diese Angst! Immer wieder Bangen. Einschläge in der Nähe. Zertrümmerte Häuser, Verschüttete. Dieses Leid, diese Verzweiflung, Trauer und Tränen rundum. Umarmung und Aufatmen, wenn unser Haus noch stand,
wenn wir Vera wiedersahen.
Königsberg sollte Festung werden, sollte um jeden Preis gehalten werden. Spürten, dass es höchste Zeit war für eine Flucht. Hatten schon Karten für die Gustlov, ich hatte Angst vor dem Wasser.
„Wasser hat keine Balken, ich gehe nicht aufs Schiff!“ Habe mich strikt geweigert. Wir hätten nicht überlebt, ganz gewiss nicht!
Vater hatte im letzten Moment Billetts für die Eisenbahn organisiert, sogar 1. Klasse. mussten trotzdem auf der Toilette sitzen. Total überfüllt, dieser Zug, vollgepfropft mit Menschen. Ein einziges Schieben und Quetschen.
Es sollte der letzte Zug sein, der Königsberg verlassen konnte. Nur Frauen mit Kindern und versehrte Männer durften noch fliehen. Euer Vater und
Vera bekamen keine Flucht-Genehmigung, mussten dort bleiben. Königsberg
verteidigen, bis zum letzten Mann, hieß es.
Brustbeutel hatte ich euch genäht, mit feuchtem Kopierstift eure Namen und Geburtstage auf den Stoff geschrieben. Etwas Geld zugesteckt und unsere Adressen von Königsberg und den Großeltern in Magdeburg.
Ein kleines Löckchen hat Papa von deinem Haar geschnitten, wollte es immer bei sich tragen. Ich konnte nur noch weinen, bekam oft Herzanfälle. Aber wir mussten weg, sollten raus aus der Gefahrenzone. Die Front rückte näher, die Russen waren nicht mehr weit.
Schreckliches wurde erzählt.
Hektik und Chaos auf dem Bahnhof, unbeschreiblich. Schreie, Tränen, Umarmungen. Koffer fliegen zurück auf den Bahnsteig. Kinder plärren, werden herumgezerrt und hochgehoben, abgeküsst, durch die Fenster gereicht, schreien nach ihren Müttern. Kriegsversehrte Soldaten, eingepfercht, stöhnen, haben Schmerzen.
„Männer, raus, raus, raus!“ Nazis mit Trillerpfeifen gellen dazwischen, halten keuchende Hunde mit Mühe zurück, reißen an den Leinen, brüllen herum, wollen Papiere sehen, schnauzen jeden an.
Noch einmal kurz auf Papas Arm, Küsschen, Tränen kullern. Ihr schreit beide. Dein Bruder fragt immer wieder: „Kommt Papa mit dem nächsten Zug?“ Ich kann nicht antworten, kann nicht mehr sprechen. Eine letzte Umarmung, Vera noch einmal drücken und streicheln. Nasse Gesichter. Eurem Papa laufen Tränen über die Wangen, unaufhörlich.
Man versteht nichts mehr, nicht mal das eigene Wort. Keine Zeit für den
Abschied. Gedränge, Fluchen, Namen werden gerufen. Flüchtlinge hängen noch in den Türen, schieben und schreien, beugen sich aus den Fenstern.
„Alles zurücktreten, Türen schließen!“ Schrille Pfiffe. Der Zug dampft, pfeift, setzt sich mühsam in Bewegung. Arme ragen aus den Fenstern, versuchen ein Winken. Aufschluchzen und Wehklagen in den überfüllten Gängen. Hände ringen zum Himmel, lautes Beten überall. Noch einen letzten Blick nach draußen, alles schwankt vor meinen Augen.
Sehe verschwommen Euren Vater winken, sehe Veras Umrisse daneben, sehe wie sie sich löst von der Seite eures Vaters, wie sie am Bahnsteig entlang läuft. Sie sucht mein Gesicht im Zugfenster, rennt mit dem Zug mit, als
er schneller wird, bahnt sich mit hochgerissenen Armen durch die Menschen. Sie schreit sich die Seele aus dem Leib, Tränen überströmt: „Maama, Maama, nimm mich mit!“ Immer wieder: „Maama, Maama, nimm mich mit!“ Ich kann sie nicht mehr ausmachen, nur noch hören, unsere Vera. Unter all’ dem Getöse auf dem Bahnhof höre ich sie schreien.
Ich halte mir die Ohren zu, sacke schluchzend zusammen.
***
Wir haben unseren Vater nicht wiedergesehen.
Wir haben unsere Vera nicht wiedergesehen.
Vera soll laut Aussage ehemaliger Überlebender aus Königsberg bei der Einnahme der Stadt von russischen Soldaten geschlagen, vergewaltigt und später mit einem Transport wahrscheinlich nach Sibirien verbracht worden sein.
Jutta Kieber März 2003